Hin und her | |
Jetzt folgt wieder ein bisschen Theorie. Eine ganz tolle Sache, die es nur in Gebärdensprachen gibt und sonst nirgends. Ein Kniff, mit dem sich Hörende anfangs mitunter schwer tun. Aber wenn Sie ihn gelernt haben, können Sie manchen Satz mit einer einzigen Bewegung ausdrücken. Neugierig? Dann lassen Sie uns nun zusammen den Gebärdenraum erobern.
Nehmen wir einmal an, wir stehen einander gegenüber, und ich möchte Sie fragen: "Kommst du mich morgen besuchen?" Wie wir es gelernt haben, gebärde ich zuerst die Zeitangabe, also "morgen" und danach den ganzen restlichen Satz in einem Rutsch: "Du besuchst mich?" Dabei kommt es genau darauf an, wie ich die Gebärde für "besuchen" ausführe.
"Besuchen" ist eine so genannte Richtungsgebärde. Die Aktion geht von einem Ort oder einer Person aus und hat ihr Ziel an einem anderen Ort oder bei einer anderen Person. Wenn ich mich mit zwei weiteren Leuten unterhalte, die links und rechts von mir stehen, kann ich mit einer einzigen Bewegung gebärden: "Die eine Person besucht die andere."
In dem Beispiel "Er besucht sie" von oben habe ich die Gebärde von einer Seite zur anderen ausgeführt. Weder links noch rechts stand jemand. Woher sollen Sie wissen, von wem ich da erzähle? Des Rätsels Lösung ist der Gebärdenraum. Damit bezeichnet man jenen Bereich um den Gebärdenden herum, in dem er seine Bewegungen ausführt. Im Verlaufe der Erzählung kann er Personen oder Gegenständen einen Ort im Gebärdenraum zuteilen. Wenn ich beispielsweise über einen Mann und eine Frau berichten möchte, gebärde ich "Mann" und weise ihm seinen Platz zu, indem ich kurz eine Faust mit nach oben gestrecktem Zeigefinger an den gewünschten Ort im Gebärdenraum stelle. Anschließend gebärde ich "Frau" und platziere auch sie.
Besonders häufig benutzt man diese stellvertretenden Positionen im Gebärdenraum bei der Wiedergabe von Dialogen zwischen zwei Personen. Wenn ich erzählen möchte, worüber der Mann und die Frau sich unterhalten haben, weise ich ihnen zuerst Orte im Gebärdenraum zu. Für die Anwtort schlüpfe ich in die Rolle der Frau. Ich drehe mich ein bisschen in der Schulter und antworte an ihrer Stelle: "Ich bin hörend." Wieder wechselt die gebärdende Person, wieder drehe ich mich. "Du gebärdest gut", lobt der Mann. "Danke", antwortet die Frau. Habe ich meinen Dialog zu Ende erzählt, drehe ich mich wieder zurück in meine Ausgangsposition.
Das soll als erste Expedition in den Gebärdenraum genügen. Wahre Könner erschaffen mit seiner Hilfe räumliche Landschaften und Gesellschaften, und führen ihre Zuschauer von einer Person zur nächsten und von einem Ort zum anderen. Man kann sich darin aber auch verlaufen und fragt sich immer wieder selbst, für wen diese Position nochmal steht. Das ist dann ähnlich verwirrend wie gesprochene Sätze von der Art: "Dann hat er ihm das gegeben, obwohl sie dem nichts davon gesagt hatte."
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